Auf positive Weise anders - Artikel toppharm Apotheken

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Der fünfjährige Samuel ist muskelschwach, hat autistische Züge und besitzt kein Sättigungsgefühl.

Hellwach und mit «gwundrigem» Blick sitzt Samuel am Stubentisch und freut sich einerseits über die zwei fremden Besucher, von denen er alles wissen will: «Wie heisst du? Woher kommst du? Wofür brauchst du die grosse Tasche? Kostet dein Fotoapparat viel?»

 

Andererseits widmet sich der Fünfjährige zwischen den Fragen genüsslich den salzigen Snacks, welche ihm seine Mutter hingestellt hat. «Kann er sie aus seinem eigenen Schälchen und nicht aus einer grossen Schale für alle essen, hat er keinen Stress», sagt Nicole Kohn, die neben ihm sitzt.

Samuel Prader Willi Syndrom

Fehlendes Sättigungsgefühl

Eine Portion einzig für das Kind, damit es diese in seinem eigenen Tempo essen kann – im Wissen darum, dass die Wahrscheinlichkeit eher klein ist, dass die Portion nochmals nachgefüllt wird. Was allgemein für viele Eltern ein bewährtes Mittel im Umgang mit Kindern und Essen ist, erhält bei Samuel eine besondere Bedeutung: Seit Geburt trägt er das Prader-Willi-Syndrom (PWS) in sich, welches unter anderem mit einem fehlenden Sättigungsgefühl einhergeht.

Prader-Willi-Syndrom

Das Prader-Willi-Syndrom (PWS) wurde 1956 von den Zürcher Ärzten Andrea Prader, Alexis Labhard und Heinrich Willi entdeckt. In der Schweiz sind pro Jahr rund sieben Neugeborene davon betroffen. Das Syndrom entsteht durch eine zufällige Veränderung des Chromosoms 15 und ist nicht heilbar.

Viele Menschen mit dem seltenen PWS entwickeln eine unstillbare Lust zu essen und neigen deshalb zu Übergewicht. Weil sie oft auch keinen Brechreiz besitzen, kam es bei PWS-Betroffenen auch schon vor, dass sie sich dermassen überassen, dass sie in der Folge mit geplatzten Mägen starben.

Bei Samuel jedoch ist dieses Risiko gebannt: Seine Eltern Nicole und Roland Kohn wachen mit ihrem mittlerweile ausgedehnten Wissen rund um das PWS ebenso entschieden wie liebevoll und mit dem nötigen gesunden Menschenverstand über die Essgewohnheiten ihres Kindes und beobachten diese aufmerksam.

Piepsen als ständiger Begleiter

Doch der Reihe nach. Als Nicole Kohn mit Samuel schwanger war, deutete noch nichts auf eine spezielle Situation hin: «Alles verlief bestens, ich hatte kaum Beschwerden. Klar ist mir im Nachhinein aufgefallen, dass sich Samuel im Bauch wenig bewegte, doch als Erstgebärende kannte ich ja nichts anderes.»

Als der Bub dann mittels Kaiserschnitt auf die Welt kam, waren seine Eltern einfach nur überglücklich. Alles schien perfekt, der Bub «munter und zwäg». Doch kurz danach fiel auf, dass Samuel schwach und schlaff war, nicht saugen konnte und zu wenig Sauerstoff bekam. «Als ich ihn zum ersten Mal in den Armen hielt», erinnert sich Roland Kohn, «wurde er blau im Gesicht und das Gerät zur Messung des Sauerstoffs piepste wild.»

In den Tagen darauf wurde das Piepsen verschiedenster Geräte für die frischgebackenen Eltern zu einem ständigen Begleiter. Da sich nämlich der Zustand von Samuel bei den folgenden Abklärungen nicht verbesserte, kam er in den Inkubator und wurde durch eine Magensonde ernährt. Zwei Tage später wurde er ins Kinderspital nach Aarau verlegt, wo zahlreiche weitere Tests folgten.

Boden unter den Füssen weg

Die Untersuchungen ergaben, dass Samuel organisch kerngesund war. Bei den vorgenommenen Bluttests jedoch lasen die Eltern dann zum ersten Mal, dass ihr Bub auch auf das PWS getestet würde, was ihnen zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts sagte.

«Als dann acht Tage nach der Geburt tatsächlich feststand, dass unser Bub mit einem seltenen Gendefekt zur Welt gekommen war, waren wir echt geschockt», erinnert sich Nicole Kohn. «Es zog uns einfach den Boden unter den Füssen weg. Darüber hinaus steckte ich noch im Babyblues. Und natürlich googelten wir im Internet, lasen alles über Symptome und Nebenwirkungen und dachten, dass wir nie mehr ein normales Leben führen könnten.»

Tausend Fragen und Ängste

Von einem Moment auf den anderen standen für die junge Familie plötzlich tausend Fragen im Raum, Unsicherheit und Ängste machten sich breit.

Tatsächlich waren die Informationen über das PWS nicht sehr ermutigend, handelt es sich doch um eine vergleichsweise seltene, durch ein beschädigtes Chromosom des Menschen bedingte Behinderung. Es beruht auf einer angeborenen Genmutation des Chromosoms 15 und geht mit körperlichen, stoffwechselbezogenen und kognitiven Symptomen einher, die durch eine Fehlfunktion des Zwischenhirns verursacht werden.

Menschen mit PWS sind kleinwüchsig und unfruchtbar, kennen kein Sättigungsgefühl, weshalb sich manche gar zu Tode essen. Andere sterben an den Folgen unkontrollierten Übergewichts. Sie haben immer Heisshunger. Die Emotionen von PWS-Betroffenen sind oftmals kaum zu steuern, das Verhalten hat oftmals autistische Züge, die Intelligenz ist vermindert, die Muskelmasse ebenso, die meisten lernen jedoch Laufen und Reden. In der Schweiz werden jährlich rund sieben Kinder mit einem Prader-Willi-Syndrom geboren.

Wichtig zu wissen: Es geht ihm gut

Heute, fünf Jahre nachdem Nicole und Roland Kohn zum ersten Mal etwas über das PWS erfahren haben, können die beiden mit dem nötigen Abstand und Hintergrundwissen weit lockerer damit umgehen und auch darüber reden.

Für sie steht mittlerweile weit weniger das Syndrom als solches im Vordergrund als vielmehr ihr Sohn: «Mit dem PWS haben wir gelernt umzugehen. Für uns ist wichtig: Samuel geht es gut, und er macht in seinem Tempo gute Fortschritte. Er lernt zwar alles, ist jedoch in der Bewegung und im Denken viel langsamer. Gewichtstechnisch müssen wir aufmerksam bleiben, haben es aber seit einiger Zeit gut im Griff. Das Essen ist ein grosses Thema, doch noch kein Problem – es hat sich eingependelt.»

Auch bei der Gestaltung der Freizeit gibt sich die Familie pragmatisch: Damit Samuels Muskelschwäche, gepaart mit seiner Neigung, sich nicht zu bewegen, nicht zum Problem wird, unternimmt Nicole Kohn sehr viel mit ihm, geht in den Zoo oder auf einen Indoor-Spielplatz. «Hauptsache er hat Bewegung.»

Vorwärts gerichtete Art

Für die junge Familie gibt es nach ersten, äusserst intensiven Jahren seit wenigen Wochen auch wieder etwas mehr Luft. Samuel besucht nämlich den Kindergarten im Zentrum für Körperbehinderung Aarau – jeden Tag wird er durch den Schulbus abgeholt und wieder nach Hause gebracht.

Darüber hinaus haben Nicole und Roland Kohn mit ihrer Art einen für Aussenstehende beeindruckenden Weg gefunden, vieles auf den ersten Blick Beschwerliches auf positive Weise zu sehen. «Für uns ist jeder Entwicklungsschritt von Samuel etwas Besonderes. Durch ihn haben wir gelernt, auch an kleinsten Dingen und Fortschritten Freude zu haben, und wir erleben jeden Moment sehr intensiv mit ihm. Für uns ist Samuel einfach auf positive Weise anders.»

 

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